Wie weit kann Ungleichheit weiter anwachsen? Aufbegehren oder klein beigeben ?
Erschienen im Standard, am 27. Juli 2022
Blickt man auf einstige und derzeitige führende Nationen und deren Reservewährungen zurück, so war für die Niederlande und deren Gulden, Großbritannien und deren Pfund und der derzeitigen Weltmacht USA und deren Dollar immer der Aufstieg an Bürgerkriegen/ Revolutionen gekoppelt, an deren Anschluss eine neue Ordnung eingeführt wurde, gefolgt von Frieden und Wohlstand. Darauf folgten große Ausgaben- und Schuldenexzesse und eine Zunahme des Chancen- und Wohlstandsgefälles, welches wiederum Konflikten schürt, die ihrerseits zu Bürgerkriegen und Revolutionen führten. Dieser Zyklus der innenpolitischen Ordnung verhält sich über die Jahrhunderte immer wieder gleich.
Bereitschaft zur Chancengleichheit
Gehen wir von folgenden imaginären Szenario: Im Leib einer Mutter entwickeln sich eineiige Zwillinge. Diese verfügen über die gleichen Ausgangsbedingungen wie Intelligenz und physische und psychische Verfassung. Dann werden diese beiden heranwachsenden Zwillinge vor die Wahl gestellt: „Einer von euch wird in Jemen das Licht der Welt erblicken und lebt steuerfrei und der andere wird in Europa auf die Welt kommen. Wie hoch ist der prozentuelle Anteil eures späteren Einkommens, den ihr bieten würdet, um in Europa das Licht der Welt zu erblicken?“ Man kann davon ausgehen, dass diejenigen Menschen, welche sich selbst für entsprechende „Überflieger“ halten, sehr viel mehr ihres späteren Einkommens bieten würden, damit sie in Europa und nicht im Jemen auf die Welt kommen. Das sagt viel darüber aus, dass unser Weg einiges mit Schicksal und nicht lediglich mit angeborenen Begabungen und Fähigkeiten zu tun hat und hilft zu erkennen, dass Erfolg nicht immer vollkommen verdient ist – wie auch Misserfolg und die Fehler und Risiken anderer Menschen, welchen diesen zufielen.
Der Aufstieg populistischer Bewegungen, die Occupy– und andere Bewegungen und ihre Auswirkungen auf die Politik auf der ganzen Welt haben vielen Ökonomen, Menschen und Anlegern die Augen für ein lange vernachlässigtes Thema geöffnet: Chancengleichheit und Ungleichheit. Die Wurzeln vergangener gesellschaftlicher Umbrüche.
Wachstum im historischen Kontext
Der traditionelle Ansatz der Ökonomie betrachtet Wachstum als etwas, das allgemein positiv ist. Wenn das BIP in einem bestimmten Jahr um 4 Prozent steigt, gehen Ökonomen implizit davon aus, dass es allen am Ende des Jahres besser gehen wird. Vielleicht sind die Menschen nicht 4 Prozent besser dran, aber mehr oder weniger um 4 Prozent herum besser gestellt. Ein BIP-Wachstum von 4 Prozent kann gleichmäßig über die Gesellschaft verteilt sein, aber es kann auch sehr ungleich verteilt sein, wobei ein Großteil der Beute an die Kapitalbesitzer geht, während ärmere Haushalte wenig vom Wirtschaftswachstum profitieren (Leider werden Aktien überproportional von wohlhabenden Menschen gehalten, während ärmere Haushalte überproportional in festverzinsliche Anlagen wie Geldmarktfonds und Anleihen investieren).
Und das ist natürlich in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten passiert: Kapitalbesitzer und hochqualifizierte Mitarbeiter haben überproportional von der Erholung nach der Finanzkrise profitiert. Und das Ergebnis war eine höhere Einkommensungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten oder dem Einkommensanteil der obersten 1 %. Thomas Piketty möchte uns glauben machen, dass dieser Vorteil der Kapitalisten gegenüber den Arbeitern ein dauerhaftes Merkmal der Gesellschaft ist.
Aber es gibt viele historische Beweise für Perioden, in denen die Ungleichheit nach unten korrigiert wurde. Zur dauerhaften Verringerung der Ungleichheit brauchte es in der Vergangenheit entweder einen (I) Krieg, eine (II) Pandemie (eine echte wie der Schwarze Tod, nicht die Covid-Pandemie), eine (III) Revolution oder einen (IV) Systemzusammenbruch (Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche). Blickt man auf den geschichtlichen Verlauf, so waren kapitalistische Systeme jedoch sehr wohl aufgrund ungleich fließender Finanzerträge für das Chancen- und Wohlstandgefälle und damit Kriege und Revolutionen verantwortlich. Die ungleiche Verteilung beeinflusst das politische System, da Wohlhabende für Ihre Nachkommen auf entsprechende Privilegien aus sind – wie berufliche und gesellschaftliche Stellung oder höhere Bildung. Dies war immer mit einer größeren Kluft im Hinblick auf soziökonomische Faktoren, politischen Einstellungen, Entwicklungsmög-lichkeiten und Werten zwischen begüterten und weniger begüterten Menschen verbunden. Dies führt zu Ressentiments, welche, solange der Lebensstandard noch einigermaßen steigt, nicht unmittelbar zu Konflikten übergehen.
Wann ist der Bogen überspannt?
Die Frage ist natürlich, wie stark die Ungleichheit zunehmen kann, bevor wir mit Bürgeraufständen oder heftigen politischen Gegenreaktionen in Form einer extremen Umverteilung konfrontiert werden. Und hier ist die Antwort, dass es noch viel schlimmer werden kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Vermögensungleichheit in Europa und in den USA weitaus größer als heute. Insbesondere die Kolonialmächte konnten ihrem Landadel unermessliche Vermögen verschaffen. Natürlich führte diese Ungleichheit auch in Russland zu Bürgeraufständen und dem Aufstieg des Kommunismus, aber in den USA und Westeuropa verhielt es sich anders. Der Rückgang der Ungleichheit in den USA wurde durch die Auflösung von Trusts, die Weltwirtschaftskrise und die Einführung eines verbesserten sozialen Sicherheitsnetzes („New Deal“) vorangetrieben. In Europa wurde der Rückgang der Ungleichheit durch zwei verheerende Weltkriege und den Verlust des Empire vorangetrieben.
Seit den 1980er Jahren erleben wir wieder eine stetige Zunahme der weltweiten Ungleichheit. Seit diesem Zeitpunkt ist die reale Kapitalrendite deutlich höher als die reale risikofreie Rendite – ein wesentlicher Faktor für die jüngste Zunahme der Vermögensungleichheit. Und obwohl die reale Kapitalrendite seit der globalen Finanzkrise etwas zurückgegangen ist, bleibt die Lücke außergewöhnlich groß. Solange die Lücke zwischen der realen Rendite riskanter und risikoloser Anlagen so groß bleibt, müssen wir mit einer Zunahme der Ungleichheit rechnen. Bis zu jenen Zeitpunkt, an dem wir einen Bruchpunkt erreichen. Die Geschichte sagt uns, dass an diesem Bruchpunkt die Dinge tatsächlich sehr hässlich werden können. Der historische Verlauf zeigt eindeutig, dass Kapitalismus sowohl zu einem Wohlstands- als auch Chancengefälle führt, was wiederum in Überschuldung, Kriegen, Revolutionen und Wirtschaftskrisen mündet, welche das gesellschaftliche Gefüge im eigenen Land und weltweit verändern. Glücklicherweise deutet die Geschichte auch darauf hin, dass dieser Bruch- bzw. Wendepunkt noch Jahrzehnte entfernt sein könnte.
Von welchem 1 Prozent reden wir?
Alle reden über Ungleichheit und wie unfair es ist, dass einige Menschen Millionen verdienen, während andere kämpfen, um über die Runden zu kommen. Eines der bestimmenden Merkmale der politischen Debatte nach der globalen Finanzkrise ist dabei die Zunahme des Wohlstands- und Chancengefälles, welches sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern zu beobachten ist. Oft konzentriert sich die Diskussion jedoch auf das Top 1 Prozent, wobei nicht immer klar ist, welches Top 1 Prozent damit gemeint sind. Die Top-1 Prozent Einkommensspitzenreiter sind nicht dieselben Personen wie die Top-1 Prozent Vermögensbesitzer. Natürlich führen sowohl die Einkommens- als auch die Vermögensungleichheit zu sozialen Spannungen, aber die Vermögensungleichheit ist zerstörerischer, da sich diese selbst aufrechterhalten kann. Wirft man einen Blick auf die Vergangenheit, so war weder die Gleichheit noch die Ungleichheit von Einkommen oder Vermögen ein erstrebenswertes Ziel für die Gesellschaft. Stattdessen sollten wir Chancengleichheit anstreben, damit jeder sein Potenzial ausschöpfen kann.