Was man im Alter über das Leben lernt

Erschienen im Standard, April 2022

Je länger wir leben, desto mehr verändern wir uns und können so unterschiedlichste Perspektiven einnehmen. Viele unserer früheren Überzeugungen erscheinen uns rückblickend als schlichtweg töricht. Unsere Reise beginnt als junger Erwachsener in der Hoffnung, dass wir Spuren hinterlassen und finanzielle Belohnungen, die wir sammeln, unser Leben entsprechend verbessern werden. Im Laufe unserer Karriere und im Ruhestand sieht das dann wieder anders aus. Die folgenden fünf Einsichten werden wir früher oder später auf unserem Weg dorthin lernen:

1. Zeit ist wertvoller als Geld

In unseren 20ern, 30ern und 40ern scheint das Anhäufen von Geld und Besitz aus gutem Grund ein lohnendes Ziel zu sein. In dieser Phase unseres Lebens haben wir in der Regel nicht viel Geld und haben immer noch viel Zeit, um uns an den Besitztümern zu erfreuen, die wir erwerben. Ganz anders sieht es bei Pensionisten und Pensionistinnen aus. Viele Menschen im Ruhestand finden das Weggeben oder Verschenken von Besitz befreiend. Sie lernen, mit Zeit viel sparsamer als mit Geld umzugehen.

2. Materielle Umstände sind nicht alles

Wenn ich mich entscheiden müsste, wäre ich für meinen Geschmack lieber ein Rucksacktourist, der mit wenig Geld die Welt erkundet, als ein Großverdiener, der einen Job hat, der ihm nicht gefällt. Ich habe sowohl in einfachen Wohnungen als auch in schönen Häusern gelebt und weiß, was ich bevorzuge. Aber ich kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich heute glücklicher bin als damals, als ich jung war und nichts hatte. Seinen Geisteszustand vor drei oder vier Jahrzehnten in Erinnerung zu behalten, ist kaum möglich.

Denke ich jedoch rückblickend an Zeiten in meinem Leben, wo ich außerordentlich glücklich oder unglücklich war, hatte das nichts mit meinen Vermögenswerten, Unterkünften oder Eigenheimen zu tun. Vielmehr waren dafür die Tiefen und Höhen des Lebens verantwortlich. Dinge wie verlieben, verlieren, vergessen, verzeihen, verlassen oder einen Elternteil verlieren, sowie berufliche Erfolge und Misserfolge, sowohl meine eigenen als auch die von Kindern oder nahestehenden Menschen.

3. Ruhm ist flüchtig

Wie viele Sportstars, Schauspieler und Schauspielerinnen oder Personen aus Politik hat jeder von uns vergessen? Denken wir an einst geniale oder auch abscheuliche Gestalten, welchen Namen wie François de Sade, Cato oder Carl Ludwig Johann zugeordnet werden können. So wie diese und andere Namen gibt es eine nicht endenwollende Anzahl an Wörtern und Dingen, die einst gebraucht wurden, nun jedoch in Vergessenheit geraten sind. Sie alle haben eines gemeinsam, nämlich dass sie im “Nichts” versinken.

Auf ihrem Höhepunkt schien es, als würden diese Menschen für immer in Erinnerung bleiben. In vielen Fällen entpuppte sich die Ewigkeit als ein Jahrzehnt, vielleicht zwei. Viele erfreuten sich einer scheinbar beneidenswerten Berühmtheit. Heute sind sie vergessen oder werden selten erwähnt. Dies gilt in allen Bereichen des Lebens und ebenso in der Wirtschaft.

4. Triumphe und Strapazen erscheinen klein

Sich Sorgen zu machen und sich strebsam zu bemühen ist in vielen von uns fest verankert. Aber rückblickend scheinen all unsere Sorgen – soweit wir uns überhaupt an sie erinnern können – eine kolossale Verschwendung mentaler Energie zu sein, während Ziele, für die wir uns mühten, rückblickend wenig Bedeutung haben.

Und warum streben wir nach scheinbar unerreichbare Zielen und erscheint uns dies auch in älteren Jahren noch als erstrebenswert? Der Schlüssel liegt einfach darin, nach dem zu streben, was jeder und jede von uns für wichtig hält, anstatt sich auf jene imaginären Erfolge zu konzentrieren, welche vom Freundeskreis, unseren Eltern oder den Marketingkampagnen der Unternehmen definiert werden. Es ist ebenso entscheidend, Ziele zu verfolgen, bei welchen wir zuversichtlich sind, dass wir uns dieser Reise erfreuen und diese spannend finden werden, auch wenn unsere Erfolge letztendlich bescheiden erscheinen.

5. Veränderungen stagnieren

Jede neue Generation erfindet gesellschaftliche Normen neu und lässt diejenigen aus früheren Generationen kämpfen, um zu verstehen, was gerade passiert. Ein Teil davon ist unserer körperlichen Verfassung geschuldet. Im Alter zwischen 20 und 30 Jahren beginnt unsere Gesundheit auf subtile Weise abzubauen. Man wird im fortgeschrittenen Alter nicht einfach mit rasender Geschwindigkeit die neusten Elektromobile fahren oder andere neue Errungenschaften selbstlos annehmen. Das Widerstreben, Veränderungen anzunehmen, spiegelt auch den Widerwillen wider, seinen Verstand für etwas einzusetzen, von dem das Leben wahrscheinlich nicht verbessert wird. Ist man wirklich glücklicher, wenn man mehr Zeit für Dinge wie Kryptowährungen, TikTok oder das Metaverse aufwendet? Das denke ich kaum. Private oder berufliche Erfolge verlieren schnell ihren Glanz, besonders wenn wir in den Ruhestand gehen oder zu einem anderen Job wechseln. Es ist erschütternd, wie schnell wir von einem geschätzten Mitarbeiter zu einer kaum mehr wahrgenommenen Person werden können.

Ich bewundere die jüngeren Generationen und ihre Fähigkeit, mit scheinbar grenzenloser Energie durch eine immer komplizierter werdende Welt zu navigieren. Dennoch geht aus unseren gesellschaftlichen Strukturen hervor, dass viele Ältere verächtlich gegenüber den jungen Erwachsenen von heute sind (obgleich dies auch schon früher so war).

Die obig aufgezeigten Perspektiven werden uns auf dem Weg durchs Leben früher oder später erreichen – wenngleich wir diese auf unseren unterschiedlichen Phasen des Lebens von anderen Blickwinkeln aus betrachten. (Bernhard Führer, 14.4.2023)