“Österreich ist ein Stück weit Opfer seines eigenen Erfolges der letzten beiden Jahre”

Erschienen auf Leadersnet, am 14. November 2023

LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Nehammer, erzählen Sie Ihren Hintergrund. Was hat Sie geprägt?

Karl Nehammer: Politik hat mich schon in jungen Jahren begeistert. Bereits als Jugendlicher habe ich mich für die Volkspartei ehrenamtlich engagiert – sei es das Verteilen von Flyern im Wahlkampf oder die organisatorische Unterstützung bei Veranstaltungen. Das bürgerliche, liberale und christlich-soziale Wertesystem wurde mir schon durch mein Elternhaus mitgegeben und führte mich später auch in die Volkspartei. Diese Werte sind auch heute noch mein Kompass bei jeder politischen Entscheidung, die ich treffe. Dass ich eines Tages als Bundesminister oder gar Bundeskanzler unserem schönen Land und den Menschen hier dienen darf, ist die größte Ehre. Daran hätte ich damals bestimmt nicht gedacht.

LEADERSNET: Im Hinblick auf den Erhalt der Kaufkraft steht Österreich im internationalen Vergleich besser da als viele andere Länder. Dennoch können sich hierzulande immer mehr Menschen das Leben nicht mehr leisten. Wir haben in Österreich mit die höchste Inflation der westeuropäischen Länder. Hätte man hier in einigen Bereichen nicht regulatorisch in den Markt eingreifen sollen?

Nehammer: Wir haben als Bundesregierung gerade für Menschen mit geringerem Einkommen insbesondere Maßnahmen gesetzt, damit das verfügbare Einkommen stabilisiert wird, was sich auch was sich auch in den Analysen der Wirtschaftsforscher:innen widerspiegelt, wie z. B. die Erhöhung des Klimabonus, Einmalzahlungen an vulnerable Gruppen und Pensionist:innen sowie strukturelle Maßnahmen wie die Abschaffung der kalten Progression und die Valorisierung von Sozialleistungen. Darüber hinaus erfolgte die Erhöhung des Familienbonus und des Kindermehrbetrags, die Erhöhung der Negativsteuer und die Einführung des regionalen Klimabonus. Die Kaufkraft bzw. das verfügbare Einkommen sind die relevanten Parameter für Konsument:innen. Wir haben uns für gezielte Entlastungsmaßnahmen entschieden und haben uns dafür stets auch mit vielen anerkannten Wirtschaftsforscher:innen beraten.

LEADERSNET: Ihre Aussagen zu Kinderarmut und Frauen in Teilzeit sorgten für Kontroversen und Kritik. Sie verwiesen dabei u.a. auf einen US-amerikanischen Fast-Food-Konzern, bei dem das Essen nicht gesund aber billig sei. Caritas-Präsident Landau meinte dazu, dass bei uns niemand an Hunger oder Kälte sterben muss, es jedoch ein Trugschluss wäre zu behaupten, dass niemand hungert oder friert. Was sagen Sie dazu?

Nehammer: Meine Aussagen in diesem Video wurden stark verkürzt widergegeben. Ich habe zum Beispiel weder gesagt, noch gemeint, dass Mütter arbeiten gehen sollen. Im Gegenteil, ich habe von Frauen ohne Betreuungspflichten gesprochen und dabei auch Männer gemeint. Mütter leisten Großartiges in diesem Land, völlig unbestritten. Die Bundesregierung hat bisher die zweitmeisten Anti-Teuerungsmaßnahmen in ganz Europa gesetzt. Sie hat die kalte Progression abgeschafft und dadurch bewirkt, dass jede:r, der:die arbeitet, auch mehr netto am Konto hat. Zusätzlich zur Familienbeihilfe und anderen Sozialleistungen – die um fast zehn Prozent erhöht werden  –, werden für sozial benachteiligte Familien 60 Euro pro Person pro Monat ausbezahlt. Das sind nur einige Beispiele.

LEADERSNET: Laut einer Gallup-Umfrage sind 36 Prozent der Wähler:innen mit der Arbeit der Bundesregierung “gar nicht” und 38 Prozent “wenig” zufrieden. Die Preise steigen weiter, in den Krankhäusern und in den Schulen fehlt es an Personal. Informationsfreiheitsgesetz und Klimaschutzgesetz liegen immer noch am Verhandlungstisch. Diskutiert wird über Bargeld in der Verfassung und über Normalität… 

Nehammer: Das Informationsfreiheitsgesetz haben wir vor Kurzem mit dem Koalitionspartner auf den Weg gebracht, genauso wie viele andere große Projekte und Maßnahmen, wie das Erneuerbaren-Wärme-Paket, den Energiekostenzuschuss für Unternehmen, und vieles mehr – wie bereits vorhin erwähnt. An Arbeitseifer mangelt es nicht. Und dass das Bargeld für viele Menschen in Österreich extrem hohen Wert hat, ist ein Faktum, und dazu stehe ich auch als Bundeskanzler.

LEADERSNET: Eine der größten Herausforderungen der westlichen Welt ist, dass wir nicht genug nachhaltiges Wirtschaftswachstum haben. Das verursacht viele Probleme und gefährdet auch Frieden, Freiheit und Wohlstand. Können neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), die fehlende Produktivität der letzten Dekaden zurückbringen? Was sind mögliche Lösungsansätze?

Nehammer: Neue Technologien wie KI stellen seit dem Smartphone wahrscheinlich die größte technologische Revolution dar. Künstliche Intelligenz ermöglicht das Potenzial, die Produktivität zu steigern und wirtschaftliches Wachstum zu fördern, indem sie beispielsweise bei der Automatisierung und Datenanalyse zum Einsatz kommt. KI wird einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Entwicklung leisten. Wichtig ist vor allem eine Nutzung, die unseren Werten entspricht. Daher müssen Technologien wie KI verantwortungsvoll eingesetzt werden. Dies stellen wir in Europa mit dem sogenannten “AI Act” sicher, der noch dieses Jahr verabschiedet werden soll. Zudem wurde bereits im September ein KI-Maßnahmenpaket präsentiert. Damit richten wir eine Servicestelle für Bürger:innen und Unternehmen bei der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR) ein. Um Transparenz und Vertrauen in KI zu gewährleisten, soll noch vor Inkrafttreten des europäischen AI Acts eine Kennzeichnungspflicht von KI-Systemen in Österreich eingeführt werden.

LEADERSNET: Von der aktuellen Teuerung bleibt selbst die Mittelschicht nicht verschont. Die Mechanismen “Leistung, Aufstieg, Sicherheit” scheinen aus dem Ruder geraten zu sein. Was sind die großen Herausforderungen in diesem Zusammenhang?

Nehammer: Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren drei große Anti-Teuerungs-Pakete geschnürt, damit die Menschen in Österreich gut durch die Krise kommen. Wir haben uns auf diesem Weg stets mit den führenden Expert:innen der Wirtschaftswissenschaft beraten. Neben all den Entlastungs- und Unterstützungsmaßnahmen wie dem Teuerungsbonus, der ökosozialen Steuerreform, der Valorisierung der Sozialleistungen, der Stromkostenbremse und dem Wohn- und Heizkostenzuschuss auch Maßnahmen bei den Energiepreisen gesetzt, um die Energiekonzerne zur Kasse zu bitten, weil uns wichtig war, das Problem an der Wurzel zu packen und nicht nur die Symptome zu bekämpfen. Und es hat sich gezeigt, dass die Maßnahmen wirken: Die Kaufkraft wurde gestärkt und die Inflation ist so niedrig wie zuletzt zu Jahresbeginn 2022. Und ja, es bleibt weiter ein harter Kampf gegen die Inflation.

LEADERSNET: Viele Menschen fragen sich, was in der Migrationspolitik falsch läuft. Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab und fast alle sind sich einig, dass das unhaltbare Zustände sind. Man kann die Armut der Welt nicht mit Migration lösen. Viele Ihrer Vorgänger sind daran schon gescheitert. Dänemark hat die Zuwanderung relativ restriktive eingedämmt, weil die Regierung dort gesagt hat, “wir schaffen das nicht mehr”. Kann das Land ein Vorbild für Österreich sein? Würden Sie die Sozialleistungen, so wie die Dän:innen, runter schrauben?

Nehammer: Ich kann mir solche Modelle auf jeden Fall vorstellen. Österreich liegt im europäischen Vergleich im Spitzenfeld bei den Sozialleistungen. Eine Reform der Sozialleistungen würde sowohl das Problem der illegalen Migration und Zuwanderung in unser Sozialsystem deutlich reduzieren und gleichzeitig zu einer schnelleren Arbeitsmarktintegration führen. Dänemark ist hier ein Vorbild. Nach dem dänischen Modell gibt es in Hinblick auf die Aufenthaltsdauer eine Unterscheidung bei der Höhe der Sozialleistungen. Wer kürzer im Land ist, bekommt weniger Sozialleistungen. Wir brauchen auch in Österreich eine Reform der Sozialleistungen, um unser gutes Sozialsystem für die Zukunft zu bewahren.

LEADERSNET: Ein Erlass von Arbeitsminister Martin Kocher sieht strengere Vermittlung von Arbeitslosen mit geringfügigem Zuverdienst vor. Planen Sie weitere Verschärfungen oder Abmilderungen?

Nehammer: Rund zehn Prozent aller AMS-Leistungsbezieher:innen arbeiten neben der Arbeitslosigkeit geringfügig. Ich halte es angesichts des hohen Arbeits- und Fachkräftemangel für zumutbar, dass man, wenn man gesundheitlich dazu in der Lage ist, sich um vollversicherte Stellen bemüht. Arbeitsminister Martin Kocher hat in einem Erlass an das AMS definiert, dass die Vermittlung von geringfügig beschäftigten Personen, die gleichzeitig beim AMS arbeitslos gemeldet sind, stärker forciert und kontrolliert werden soll. Es ist eine wichtige Maßnahme, um die Erfolgsquote bei der Vermittlung zu erhöhen, die Dauer der Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren und dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.

LEADERSNET: Ihre Regierung hat im Kampf gegen den Klimawandel mehr Fortschritte erzielt als ihre Vorgängerregierungen. Welche sind Ihrer Meinung nach die drängendsten Umweltprobleme, denen wir heute gegenüberstehen, und wie sollten wir damit umgehen? Wie können wir Klimapolitik betreiben, ohne das Wirtschaftswachstum zu gefährden?

Nehammer: Ich bin überzeugt davon, dass wir auf Fortschritt durch Innovationen und Technologieoffenheit setzen müssen, statt auf Verbote. Österreichische Unternehmen verfügen über enormes Wissen und Know-how in diesem Bereich. Es ist möglich, das Klima zu schützen, ohne den Wirtschafts- und Industriestandort zu gefährden. Nur ein Beispiel: Ich war erst kürzlich in Norwegen, wo schon seit vielen Jahren CO2 tausende Meter unter dem Meeresboden gespeichert wird. Diese Schlüsseltechnologie der CO2-Speicherung und viele andere Innovationen sind essentiell, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen. Gleichzeitig müssen wir die großen Verbraucherländer dazu bringen, umzudenken und unsere Klimatechnologien in die Welt exportieren.

LEADERSNET: Ihre wichtigste Handlung ist ohne Zweifel die Abschaffung der kalten Progression. Menschen bleibt so, im Gegensatz zu den einmalig erhaltenen Hilfen, langfristig und nachhaltig mehr Geld im Börserl. Auf der anderen Seite stehen wir jedoch vor einer Stagnation der Wirtschaft. In den nächsten Monaten kommt da noch einiges auf uns zu. Die Arbeitslosigkeit dürfte steigen, das Wirtschaftswachstum wird sich wohl in Grenzen halten. Was gedenken Sie zu tun?

Nehammer: Es ist wichtig zu sagen, um was genau es sich handelt. Wir haben es mit einer Konjunkturdelle zu tun. Österreich ist ein Stück weit Opfer seines eigenen Erfolges der letzten beiden Jahre. Österreichs Wirtschaftswachstum war doppelt so hoch wie jenes in Deutschland. Wichtig ist, der Arbeitsmarkt ist davon nicht betroffen, er bleibt stabil. Die Arbeitslosigkeit wird laut den Prognosen nicht signifikant steigen, im Gegenteil, der Arbeitskräftemangel besteht weiterhin. Das verfügbare Einkommen der Österreicher:innen ist in diesem Jahr trotz Energiekrise und Inflation real gestiegen, die Kaufkraft wurde vollständig erhalten. Um diese Delle abzufedern und das Wirtschaftswachstum für das kommende Jahr anzukurbeln, arbeiten wir als Bundesregierung an gezielten konjunkturbelebenden Maßnahmen.

LEADERSNET: Was ist der beste Ratschlag, den Sie für ihre berufliche Laufbahn und Ihr Leben je erhalten haben? Was ist die wichtigste Lektion, die Sie aus all dem gelernt haben?

Nehammer: Mein Vater hat mir als Jugendlicher in schwierigen Situation geraten, “mich selbst nicht so wichtig zu nehmen”. Das ist ein Rat, der für mich als Bundeskanzler auch immer wieder zutrifft. Für mich ist es eine Ehre, das Amt des Bundeskanzlers auszufüllen, der Republik zu dienen und unser Land beispielsweise im Ausland oder bei EU-Gipfeln zu vertreten. Und bei dieser Arbeit geht es nicht um mich als Karl Nehammer, sondern darum, das Beste für unser Land zu geben und das ist wirklich eine großartige Aufgabe, die ich mit großer Leidenschaft jeden Tag ausfüllen darf.

LEADERSNET: Wenn Sie nicht Bundeskanzler der Republik Österreich, nicht der Vater zweier Kinder und nicht mit Regierungsarbeit beschäftigt sind, was machen Sie sonst da draußen?

Nehammer: Zwei Kinder und ein Hund kommt da auch noch dazu – es gibt als leidenschaftlicher Familienmensch also immer was zu tun, ich bin da immer gut ausgelastet.